Von Birgit Marzinka (Lernort Keibelstraße) und Irmgard Zündorf (Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam)
Datum: November 2021
Am 1. November 1951 wurde die Untersuchungshaftanstalt II in Berlin-Mitte in Betrieb genommen. Dies haben wir, Birgit Marzinka (Lernort Keibelstraße der Agentur für Bildung – Geschichte, Politik und Medien e.V.), Irmgard Zündorf (Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam) sowie Nina Reusch und Martin Lücke (Arbeitsbereich der Didaktik der Geschichte der FU Berlin) zum Anlass genommen, im November 2021 einen Workshop zu Strafvollzug, Untersuchungshaft und Justiz in der DDR, wie auch in der alten Bundesrepublik zu organisieren. Ziel war es, (Master-)Narrative in den Einrichtungen zu hinterfragen und neue Perspektiven auf Bildung und Forschung zu entwickeln. Hierfür wurde ein interdisziplinärer Ansatz gewählt.
In vier Modulen brachten Referent*innen ihre Perspektive auf die folgenden Themen ein: Masternarrative zur deutsch-deutschen Geschichte (Marie Müller-Zetzsche), Justizsystem der DDR (Sebastian Richter und Birgit Marzinka), Strafvollzug und Untersuchungshaft in Anstalten des Ministeriums des Inneren (Sebastian Lindner und Silke Klewin) sowie Strafvollzug und Untersuchungshaft in der alten Bundesrepublik (Annelie Ramsbrock und Gustav Partington). Inhaltlich kombinierten die einzelnen Module jeweils Erkenntnisse und Diskussionen aus Wissenschaft und Bildungsarbeit. Ziel war es, miteinander ins Gespräch zu kommen und die verschiedenen Blickwinkel abzugleichen. Dabei wurde bereits deutlich, dass die Zugänge sich bezüglich der Masternarrative über den Strafvollzug und die deutsch-deutsche Geschichte weitgehend decken, es aber auch Bereiche gibt, in denen es wenig Austausch zwischen wissenschaftlicher Forschung und Bildungsarbeit gibt. Im Abschlussmodul stellten vier Kommentator*innen (Martin Lücke, Gerhard Sälter, Stefan Donth und Christine Morgenstern) ihre Sichtweisen auf die Diskussionen aus den einzelnen Modulen dar und eröffneten so den Raum zu einer übergreifenden Diskussion der Workshop-Themen. Moderiert wurden die Module von Irmgard Zündorf, Katharina Hochmuth, Amélie zu Eulenburg, Nina Reusch und Birgit Marzinka. Die Beiträge der Referent*innen sind im LaG-Magazin “Strafvollzug in DDR und BRD – Perspektiven für die Bildungsarbeit” dokumentiert, die abschließenden Diskussionen fassen wir im Folgenden zusammen.
Durch den deutsch-deutschen Vergleich kam immer wieder die Frage auf, wie sinnvoll zu differenzieren ist, welche Aspekte des DDR-Strafvollzugs DDR-spezifisch waren und welche Aspekte grundsätzlich haftspezifisch und sich dementsprechend auch in Untersuchungshaft und Strafvollzug der Bundesrepublik fanden. Da diese Frage in der Forschung und in der Aufarbeitung bisher wenig gestellt wurde, sind hierzu weitere Untersuchungen notwendig. Dafür müssten beide Systeme stärker in Bezug zueinander gesetzt werden. Dies erschien wichtig, um die Unterschiede wie auch Parallelen für die Bildungsarbeit herauszuarbeiten. So sollte die DDR-Geschichte nicht isoliert betrachtet werden, um lange Linien des Strafvollzugs und des Justizwesens der DDR herauszuarbeiten, aber auch um DDR-Spezifika in diesen Bereichen deutlicher benennen zu können und ein differenziertes Narrativ zu entwickeln. Ein solches Vorgehen hätte auch eine Neubewertung des Strafvollzugs und der Justiz zur Folge und könnte mit einem Blick in den heutigen Strafvollzug erweitert werden. Für die Bildungsarbeit würde dieser Perspektivwechsel über die DDR hinaus neue Fragen, aber eben auch neue Einsichten ermöglichen.
Die Vorschläge zur Erweiterung der Perspektiven bezogen sich vor allem auf die Aufarbeitung und hier speziell auf die Gedenkstätten. Letztere sind jedoch von ihrem Wesen her auf die Geschichte ihres Standortes fixiert. Trotzdem forderten die Workshop-Teilnehmer*innen, sie in einen weiteren Kontext zu stellen und damit sowohl die Vor- und Nachgeschichte der DDR in den Blick zu nehmen als auch die parallel verlaufende Entwicklung in der Bundesrepublik. Dadurch könnte auch die unterkomplexe Darstellung des Westens als reine Erfolgsgeschichte mit der DDR als Gegenfolie aufgebrochen werden. Um die Gegenwart zu verstehen – und das ist ein Ziel der historisch-politischen Bildungsarbeit – reicht es nicht, die alte Bundesrepublik allein als Vorbild zu präsentieren; auch ihre problematischen Entwicklungen müssen thematisiert werden und diese lassen sich am Strafvollzugssystem sehr gut aufzeigen.
Zudem arbeiteten die Referent*innen und Diskutant*innen heraus, dass die DDR häufig von ihrem Ende her erzählt wird und damit von ihrem Scheitern. Die Entwicklung und die verschiedenen Prozesse, welche die DDR in ihrer 40-jährigen Geschichte durchlaufen hat, werden dadurch nicht deutlich. Auch der Fokus auf der Repressionsgeschichte wurde kritisiert und gefordert, in Gedenkstätten nicht allein auf Repression zu fokussieren, sondern zum Beispiel Alltagsgeschichte mit in den Blick zu nehmen. Diese Perspektivenerweiterung, die in der Forschung bereits umgesetzt wird, sollte auch in erinnerungskulturellen Einrichtungen und in der Bildungsarbeit verstärkt werden. Damit verbunden könnte man in der Bildungsarbeit die deutsch-deutsche Geschichte jenseits einer Schwarz-Weiß-Darstellung differenziert und in ihren verschiedenen Dimensionen diskutieren. Ziel sollte es sein, die DDR-Geschichte nicht allein auf ihren repressiven Charakter sowie auf ihr Scheitern zu reduzieren. Vielmehr sollte sie als Forschungs- und Aufarbeitungsthema ernst genommen und ihre verschiedenen Dimensionen diskutiert werden. Dies sollte auch in Gedenkstätten möglich sein.
Eine zentrale Frage, die sich durch den Workshop zog, war, wie Bildungsarbeit an Orten des Strafvollzugs und der Untersuchungshaft aussehen könnte. Welche (Denk-)räume könnten bzw. sollten eröffnet werden. Wie sollten die Gedenkstätten und Lernorte arbeiten, damit sie für Lernende zugänglicher werden? Wie schaffen sie es, dass Lernende nachdenken, eigene Fragen entwickeln und motiviert werden, sich mit dem Thema Gefängnis auseinanderzusetzen und sich ein eigenes Urteil zu bilden? Die Antworten zielten zumeist auf den Wunsch nach der Herstellung eines Gegenwartsbezugs zu der präsentierten Geschichte, aber auch auf die oben bereits erwähnte Kontextualisierung. Die Einbettung der Geschichte in ihren größeren Zusammenhang, sowohl zeitlich als auch geografisch, und damit der Vergleich mit anderen politischen und gesellschaftlichen Systemen wurde daher auch an dieser Stelle für die Bildungsarbeit in Gedenkstätten vorgeschlagen.
Gleichzeitig fragten die Teilnehmer*innen des Workshops danach, welche Lernziele eigentlich sinnvoll in Gedenkstätten zu vertreten sind? Reicht es, möglichst viel über den historischen Ort und die DDR informiert zu werden? Oder sollte vielmehr über den Ort hinaus das allgemeine Demokratieverständnis im Mittelpunkt der Bildungsarbeit stehen? Letzteres wurde aufgrund des thematischen Zuschnitts in Gedenkstätten verneint. Vielmehr wurde festgehalten, dass sie sich eher für die Menschenrechtsbildung eignen. Menschenrechte sind für sämtliche politische Systeme gültig und können somit auch auf die DDR angewandt werden. Was sind Menschenrechte, wo werden sie eingeschränkt und mit welchem Recht? Das sind Fragen, die sich sowohl in Bezug auf das Justizsystem der DDR als auch der alten und der neuen Bundesrepublik trefflich diskutieren lassen, um darauf aufbauend eigene Schlüsse zu ziehen.
Ziel der Bildungsarbeit sollte somit darin liegen, die Kompetenz zu entwickeln, eigene Urteile zu bilden. Dies sollte auf der Basis von triftigen Informationen geschehen, die wiederum in den Gedenkstätten zur Verfügung gestellt werden. Dabei könnte weniger Wert auf Details und dafür mehr Wert auf übergreifende Fragestellungen gelegt werden, die auch einen größeren Lebensweltbezug aufzeigen.
Die Diskussionen in Bezug auf den Bildungsauftrag der Gedenkstätten, die pädagogischen Angebote und die zu präsentierenden Geschichten wurden in den einzelnen Modulen zum Teil kontrovers, aber auch sehr offen geführt. Auch die Frage, ob es vielleicht bereits zu viele Gedenkstätten mit einer zu geringen Personaldecke in der Bundesrepublik gibt, haben die Teilnehmer*innen diskutiert: Brauchen wir mehr oder brauchen wir bessere Lernorte? Was aber genau sind „gute“ Lernorte? Der Workshop hat keine abschließenden Antworten auf diese Fragen gegeben, aber gezeigt, dass sich in der Gedenkstättenlandschaft ein Wandel abzeichnet, der besonders in der Bildungsarbeit sichtbar wird. Den Wunsch, diesen Wandel zu begleiten bzw. weiter zu diskutieren, unterstützen alle Teilnehmer*innen und wir freuen uns, mit diesem Workshop und dieser Ausgabe des LAG-Magazins einen Beitrag dazu zu leisten und die Debatte fortzuführen – gern bereits im nächsten Jahr auf einem folgenden Treffen – dann vielleicht auch wieder von Angesicht zu Angesicht.
Der Workshop wurde auch auf H-Soz-Kult dokumentiert.